André Rival

 

                                                                    Klaus Honnef





                              " Hundert Frauen "  ein Fotografisches Projekt,   1994

 


Eines der vielen Cafés auf dem Montparnasse in den zwanziger Jahren. Der Kellner weigert sich, zwei junge Frauen, die offensichtlich eine Bestellung aufgeben wollten, zu bedienen. Auch lärmende Proteste ändern seine Haltung nicht. Sie trügen keine Hüte, sagte er, und Frauen ohne Hüte in öffentlichen Cafés galten damals selbst in Paris als Prostituierte. Man Ray, Der große dadaistische Künstlerfotograf beobachtete die Szene und schilderte sie in seiner   illustrierten Autobiographie mit dem Titel " Selbstportrait ". Eine der beiden jungen Frauen war Kiki,  begehrtes Modell der armen Maler vom Montparnasse, die später Weltruhm erlangten, und kurz  darauf die Geliebte von Man Ray und ebenfalls sein bevorzugtes Modell.

 Er musste freilich die ganze Kunst der Überredung aufbieten, ehe sich die junge Frau hinter einem Wandschirm in seinem Studio entkleidete. "... Und dann trat sie hervor, züchtig eine Hand vor sich haltend, genau wie die Gestalt auf Ingres Gemälde "la Source".

Wie eine liebenswerte Schnurre aus längst versunkener Zeit mutet das Dramulett auf dem     Montparnasse im Vergleich zu einem fotografischen Projekt von André Rival an.

Kein ungeschriebenes Gesetz zwingt die Frauen mehr zu einer bestimmten Kleidung - zumindest nicht in den Gesellschaften der westlichen Zivilisation. Und häufig kostet es auch nur einen Wink mit der Kamera, Modelle magisch anzuziehen.

 Dennoch - auch in einer Zeit, wo mit sämtlichen Hüllen anscheinend auch die Hemmung gefallen sind und die Pornographie fast allein das Terrain des Erotischen regiert oder die anti-septische Sterilität der Fitness-Erotik, ist ein Vorhaben, wie es Rival verwirklicht hat, ungewöhnlich und kühn. Er hat hundert Frauen überredet, sich selber zu fotografieren. Für eine von vornherein geplante Veröffentlichung. Die einzige Bedingung: nackt sollten sie sein.

 Natürlich ist derlei Ansinnen nicht ungewöhnlich. Viel mehr übliche Praxis einschlägiger Magazine. Ungewöhnlich ist bloß das Konzept des Fotografen. Denn er legte nur den äußeren Rahmen eines jeden fotografierten Bildes fest: Indem er die Kamera bereit stellte, bestimmte er das Bildformat. Ferner schuf er die räumlichen Voraussetzungen. Ein ausgeräumtes Wohnzimmer diente als Studio.

 Dem Bildfond lieferten dessen weiße Wände, und der Parkettfußboden war mit ein Material in Weiß ausgelegt. Die einfache Beleuchtung sorgte für gleichmäßiges, flach fallendes Licht. Das veränderte sich nur, wenn sich die Modelle vor der fixierten Kamera bewegten. Neben dem fotografischen Apparat und den Belichtungsquellen befand sich noch eine Videokamera im Raum samt Monitor. Die Quadrage von Fotokamera und Bildschirm war beinahe identisch. So konnten die Modelle auch ihr fotografisches Abbild relativ genau kontrollieren. Als die einzigen Requisiten fungierten ein paar weißgestrichene, rechteckige  Podeste aus Holz oder Kunststoff.

 Schließlich traf André Rival noch zwei weitere Entscheidungen: er verwendete für das Unternehmen eine Mittelformat Kamera sowie Filme in Farbe anstatt schwarz-weiß. Während der Aufnahme beim fotografischen Akt war er nicht anwesend. Und darin besteht das wirklich Ungewöhnliche seines Unterfangens. Freiwillig begab er sich in die Macht der Inszenierung bei den hundert überredeten Frauen, verzichtete bewußt auf jede Einflußnahme ihres Bildes - jenseits der geschaffenen Voraussetzungen. Wie sie sich darstellen wollten, war ausschließlich ihre Sache. Innerhalb des vorgegebenen Rahmens der äußeren Vorgaben waren sie völlig frei.

 Denn auch das gehörte zu den Bedingungen: keines der realisierten Bilder durfte der Fotograf ablehnen. Lediglich dem Modell stand dies zu. Und erst nach der  gemeinsam vorgenommenen Auswahl der eigenen Aufnahmen hatte Rival der jeweiligen Protagonistin auch die Bilder der anderen gezeigt.

 Es wäre verständlich gewesen, wenn er trotz seiner Jugend schon ein erfahrener Fotograf, der auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichung zurückblicken konnte, die Modelle für sein Experiment aus dem näheren Umfeld der Fotografie bezogen hätte. Professionelle Fotomodelle oder Schauspielerinen. Eben dies wollte er nicht. Einerseits hätte eine Beschränkung auf Berufsmodelle seinen Einfluss auf die Ergebnisse des fotografischen Versuchs in ungeahntem Maße vergrößert. Sobald sie einen Fotografen kennen, bieten sie das Repertoire an, daß er ohnehin will. Einerseits schwebte Rival auch ursprünglich mehr als ein fotografisches Experiment vor. Er strebte eine repräsentative Analyse weiblichen Verhaltens vor der Kamera in anschaulicher Form an, gleichsam als Beitrag zur Erforschung menschlichen Verhaltens.

 Deshalb das besondere Rollenspiel, dass er ersonnen hat; und daß er von seinem Akteurinnen verlangte, angesichts der Kamera nackt zu posieren, ist weniger Ausdruck erotisch - sexueller Gelüste als des Bemühens um Authentizität. Der Blick hinter die Maske der Kleidung. Nichts als die Wahrheit, die nackte Wahrheit.

 Früh hat der Fotograf begriffen, daß er zu hoch gezielt hatte. Ohne das ausgefeilte, wissenschaftliche Instrumentarium der Statistik und der Umfragetechnik hätte er keine verbindliche Aussage treffen können. Im Übrigen wäre der Aufwand immens gewesen. Zudem der Zuwachs an Erkenntnis über die komplizierten Mechanismen menschlichen Verhaltens ziemlich gering.

 Also begrenzte Rival die Zahl der Teilnehmerinnen an seinem Experiment auf ein überschaubares Quantum. Und je länger er daran arbeitete, insgesamt fast ein Jahr, desto klarer  erkannte er, daß er sich einer spezifisch fotografischen Herausforderung gegenübersah, einer Herausforderung sowohl in professioneller als auch in ästhetischer Hinsicht.

 Haben nicht ihre frühen Verfechter von der Fotografie als einem Medium der Kunst ohne Künstler geschwärmt? Damals ging auch die Vorstellung von einem Raphael ohne Hände um. Kein Wunder, daß die meisten Künstler die Fotografie aus diesem Grunde strikt ablehnten. Gleichwohl hat der Gedanke eines gleichsam selbsttätigem künstlerischen Ausdrucksmittels die Theoretiker der Fotografie stets fasziniert

" Zum ersten Mal ", verkündet André Bazin in einem glanzvollen Essay über die

" Ontologie des fotografischen Bildes ", " zum ersten Mal - einen rigorosen Determinismus entsprechend - entsteht ein Bild der Außenwelt automatisch, ohne das kreative Eingreifen des Menschen....Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit. Sie wirkt auf uns wie ein < natürliches > Phänomen, wie eine Blume oder eine Schneeflocke, deren Schönheit nicht trennbar ist von ihrem pflanzlichen oder tellurischen Ursprung ". Glaubwürdigkeit attestiert der bedeutende Filmkritiker den fotografischen Bildern, weil die Entwicklung zur Automatik die Objektivität des Bildes erzeugt und die Psychologie radikal erschüttert habe. Als eine " Tat ohne Täter " apostrophiert der Essayist Martin Burckhardt die Fotografie. Einmal ausgelöst, entwickelt sich das Bild ganz von selbst, bleibt dem Fotografen nichts anderes als die Rolle des Katalysators, eines Startschützen, der lediglich die Initialzündung auslöst, welche im Inneren der Blackbox die Handlungsmaschine in Gang setzt. Da war einer wie Man Ray völlig gegenteiliger Meinung. "... ich fotografiere so, wie ich male, wandle das Modell, wie es ein Maler tut könnte, könnte es so veredeln oder umformen wie ein Maler auch".

Um die Fotografie kristallisieren sich zahlreiche Paradoxien. Irgendwie treffen alle zitierten Aussagen auf sie zu - ein Automatisches Verfahren und gleichermaßen ein technisches Instrument der künstlerischen Gestaltung.

 Auf dem schmalen Grat dieses denkwürdigen Widerspruchs, der vielleicht überhaupt keiner ist, siedelt André Rival sein nicht minder denkwürdiges Projekt an.

 Er nutzt die Möglichkeiten der Fotografie, nimmt  ihren technischen Kern ernst und steckt dabei als Autor, als Urheber im handwerklich - schöpferischen Sinne zurück. Seine scheinbare Abstinenz erbringt einen bemerkenswerten Zugewinn. Sie verwandelt die Modelle in Akteure, ebnet also das traditionell hierarchische Verhältnis von Fotograf und  Modell, dem " fotografischen Gegenstand " eigentlich, ein und macht aus den potenziellen Opfern der Kameraarbeit selbst - bestimmte Handelnde - natürlich nur innerhalb des vorgegebenen Rahmens.

 Zudem erschütterte er mit seinem freiwilligen Verzicht einen sorgsam gehegten künstlerischen Mythos. Danach verdürben viele Köche stets den ästhetischen Brei. Dabei spielt er bloß das emanzipatorische Element der Fotografie konsequent aus. Die ästhetische Wirkung der Bilder "100 Frauen - Selbstansichten ", der Eindruck der Unmittelbarkeit, die erfrischende Spontanität, die bisweilen ätzende Ironie, aber auch eine verblüffende Ehrlichkeit, die latente Ängste offenbart - kurzum die ungeheure Vielfalt in der Darstellung von Menschen verdankt sich den kreativen Fähigkeiten jeder einzelnen Akteurin.

 Sie kamen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, unterschieden sich in Alter und Beruf und verknüpften offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen mit der Aufforderung des Fotografen, sich vor der Kamera zu entblößen.

 Auch benötigten sie unterschiedlich viel Zeit dazu, von zehn Minuten bis zu sieben Stunden, um die Aufgabe zu bewältigen. Künstlerinnen  und Fotomodelle, Journalistinnen, Unternehmerinnen, Fotografinnen, Prostituierte, Schauspielerinnen, Studentinnen, Modedesignerinnen, Filmemacherinnen, Promoterinnen der Werbung, eine Rentnerin und eine Verkäuferin, eine Hutmacherin, Tänzerinnen und Musikerinnen, Architektinnen, Filmproduzentinnen, Krankenschwestern, eine Logopädin, eine Friseurin - ein paar Beispiele für Ihre berufliche Herkunft. Niemanden wird es womöglich Erstaunen, daß unter den Studentinnen das Fach Psychologie überwog. Trotz der ins Auge springenden und verborgenen Unterschiede verbannt sämtliche Frauen eines : Selbstbewusstsein - und keine hat für ihren Beitrag ein Honorar erhalten.

 So verschieden wie die äußerlichen Merkmale waren ihre Motive. Manchen  ging es einfach um vertiefende Erfahrungen . Eine der Protagonistinnen wollte nur ihr Bild machen, sehen wollte sie es hinterher nicht, ebenso wenig wie die Bilder der übrigen Frauen.

 Verblüffend ist das reichhaltige Spektrum der Posen in den fotografischen Bildern. Offene und versteckte Anspielungen  auf das Arsenal der Kunstgeschichte - auf Bilder Ingres und Man Rays zum Beispiel - und der kommerziellen Fotografie wechseln ab mit ironischen Zitaten und bewußten Provokation des - männlichen? - Kamerablicks; neben unbefangener und unverkrampfter Lust an der Zurschaustellung des eigenen Körpers tritt die Scheu, sich unverhüllt einer anonymen Kamera preiszugeben  - Mit dem Wissen freilich, daß die Bilder veröffentlicht werden sollten.

 Bisweilen brechen auch unvermittelt sorgsam verschleierte Ängste auf. Wer sich allerdings  zu vorschneller Interpretation hinreißen lässt, begibt sich aufs Eis. Denn die meisten der Protagonistinnen scheinen das Spiel vor und mit dem fotografischen Apparat perfekt zu beherrschen : Was ist authentisch,was nur vorgetäuscht? Ist diejenige, die scheinbar schamlos ihre Beine spreizt tatsächlich eine Exhibitionistin oder die andere, scheu und zögerlich, der zartfühlende Engel?

 Die Betrachter müssen hölliisch aufpassen, sonst reißt die Fantasie sie mit. Über die abgebildeten Frauen vermag niemand ein definitives Urteil zu fällen. Sie spielen Rollen, und nicht einmal die Frage, ob sie bewußt oder unbewußt auf Vorbilder zurückgreifen, kann man verlässlich beantworten.

 Nur soviel: ein festumrissenes Frauenbild gibt es nicht. Auch hier ist Pluralismus angesagt. Bleibt noch das Problem der Signatur des Projekts zu lösen. Hat es die hundert Frauen realisiert, deren Namen unbekannt bleiben? Immerhin ist die Pose, der Ausdruck von Körper und Gesicht, der Einsatz der Requisiten -  die meisten haben sich nicht mit der kargen Ausstattung des Studios begnügt - somit die Wahl des Bild - Ausschnitts ausschließlich ihr Werk.

 Und der Fotograf? Er hat für die Fotografie ein neues Terrain erobert, obwohl er lediglich eine ihrer Bestimmungen folgerichtig erfüllt hat. Er hat die Idee für das Projekt gehabt, der Kamera ihren Standort zugewiesen, die Beleuchtung diktiert, die Modelle ausgewählt und die technischen Abläufe geregelt.

 Gemäß den ästhetischen Prinzipien der Conceptual  Art ist er ein Künstler. Und nach den Kriterien der Ästhetik der Fotografie? Die steht noch weitgehend im Banne der traditionellen Künste - sie verfügt angesichts des Unternehmens André Rival nicht über die angemessene Nomenklatur. Auch die Vergleiche mit dem Film sind wenig hilfreich.

 Dennoch betrachtet André Rival die fertige Arbeit mit den Selbstansichten von 100 Frauen als sein Werk. Zurecht. Weshalb? Das zu begründen, bedürfte es endlich der Entfaltung einer eigenständigen Ästhetik der Fotografie.

 


Literatur :

 Man Ray . " Selbstportrait - Eine Illustrierte Autobiographie" , München . 1983

 André Bazin, " Ontologie des fotografischen Bildes", in " Was ist Kino", Köln ,1975

 Martin Burckhardt , " Metamorphosen von  Raum und Zeit : Eine Geschichte der Wahrnehmung ",Frankfurt / Main, 1994